Das Ziel der vorliegenden Arbeit war es den Stellenwert der Optischen Kohärenztomographie (OCT) als potenziellen Biomarker für Neurodegeneration in der Diagnostik der Multiplen Sklerose (MS) an einem ungefiltertem Patientenkollektiv im „klinischen Alltag“ zu beurteilen. In diesem Kontext sollte geprüft werden, in welcher Relation die OCT zu anderen Aspekten der Krankheitsprogression insbesondere des klinischen Bildes, des kognitiven Status und der Magnetresonanztomographie (MRT) steht. Daraus ergaben sich folgende Kernfragen der Dissertation: (1) Welche Zusammenhänge sind zwischen klinischen, neuropsychologischen, sowie radiologischen Parametern zu OCT-Parametern zu finden? (2) Lässt sich anhand der OCT-Parameter eine Aussage zum Ausmaß der Neurodegeneration treffen? Neben der Messung der Dicke der peripapillären Retinanervenfaserschicht (pRNFL) und des Totalen Makulavolumens (TMV) erfolgte die Erhebung klinischer Daten (Expanded Disability Status Scale (EDSS), Erkrankungsdauer, Schubanzahl), die Durchführung einer ausführlichen neuropsychologischen Testbatterie (Zahlenspanne, Block-Tapping-Test, Turm von London und computergestützter Merk- und Aufmerksamkeitstest (MAT)) sowie die quantitative MRT-Auswertung einer Subgruppe. Zudem sollten die Ergebnisse in den bisher publizierten wissenschaftlichen Literaturkontext eingeordnet werden. An der Studie nahmen 190 MS-Patienten teil, die überwiegend an einer schubförmig-remittierenden MS erkrankt waren. Sie hatten ein mittleres Alter von 43,01 Jahren, einen mittleren EDSS-Wert von 1,79 und eine mittlere Erkrankungsdauer von 9,33 Jahren. Die Geschlechterverteilung der Studie entsprach der epidemiologischen Verteilung mit einem deutlichen Überwiegen des Frauenanteils. Mit einer gemittelten pRNFL von 91,93 µm und einem gemittelten TMV von 8,44 mm³ wies die MS-Gruppe im Vergleich zu einem gesunden Normkollektiv signifikant geringer Werte auf. Mit Blick auf die Kognition konnte keine Beeinträchtigung im MS-Patientenkollektiv gegenüber Normwerten nachgewiesen werden. Dies lässt sich wahrscheinlich auf eine mangelnde Profilschärfe der benutzten neuropsychologischen Testbatterie zurückführen, die die Informationsverarbeitungsgeschwindigkeit nicht erfasste. Die MRT-Parameter wiesen in der getesteten Subgruppe MS-typische Befunde im Sinne einer höheren Läsionslast und quantitativ vermehrte Hirnatrophie, insbesondere der weißen Substanz, auf. In einer Subgruppenanalyse stratifiziert nach EDSS (EDSS < 3 vs. EDSS ≥ 3) konnten signifikante Gruppenunterschiede bei den OCT-Parametern und den klinischen Parametern nachgewiesen werden. Zudem ergab sich ein signifikanter Zusammenhang zwischen den OCT-Parametern pRNFL und TMV zum EDSS (p≤0,0006), zur Erkrankungsdauer (p≤0,009), zum normalisierten Hirnvolumen (p≤0,0362), zum Volumen der weißen Substanz (p≤0,0399) und zur Anzahl der Hyperintensitäten (p≤0,0444). In einem univariaten Regressionsmodell konnten der EDSS, die Erkrankungsdauer, die Anzahl an Schüben, das Alter, die Anzahl der Hyperintensitäten der weißen Substanz, das normalisierte Hirnvolumen und das Volumen der weißen Substanz als Prädiktoren auf die OCT-Zielgrößen pRNFL und TMV ermittelt werden. Die Prädiktoren waren wahrscheinlich aufgrund der niedrigeren Fallzahlen in der MRT-Subgruppe in einem multiplen Modell nicht zu halten. Deshalb sind die genannten Prädiktoren weiter als Einflussfaktoren auf die OCT-Parameter anzusehen, müssen aber in Arbeiten mit höheren Fallzahlen bestätigt werden. Zusammenfassend kristallisierte sich insbesondere die Beeinträchtigung der pRNFL als besonders sensitiv heraus. Sie stellt ein Korrelat der neurodegenerativen Komponente der MS-Erkrankung dar und verändert sich bereits zu einem frühen Erkrankungszeitpunkt. Dies untermauert den Stellenwert der OCT-Parameter als Biomarker für Neurodegeneration. Die OCT ist deshalb nach Ansicht des Autors als innovatives Verfahren anzusehen um die Diagnose einer MS über eine Affektion des visuell-afferenten Systems früh zu erfassen und den Krankheitsprogress im Verlauf sensitiv abzubilden.